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Serbien. Eine Autokratie mit dem Segen der EU und Russlands

Seit mehr als einer Woche gehen tausende junger Menschen in den Straßen der größeren Städte auf die Straße um ihrem Unmut über die Präsidentenwahl in Serbien Ausdruck zu verleihen. Vertreter der EU gratulierten dem Sieger prompt, dem Premierminister und gewählten Präsidenten Aleksandar Vučić und nannten ihn einen Stabilitätsfaktor am Balkan und eine Garantie, dass Serbien auf EU-Kurs bliebe. Nur ist nichts Europäisches an diesem Premierminister, der in seinem Bedürfnis nach Macht nicht eine sonder zwei der wichtigsten politischen Funktionen in Serbien auf einmal ausfüllen wollte. Auch am Wahlkampf war nichts Europäisches, die eine One-Man-Show war, ein Rennen, bei dem alle anderen von vornherein nur verlieren konnten.

Die Woche nach der Wahl begann mit 30.000 auf den Straßen Belgrads, tausenden in Novi Sad, Kragujevac und anderen größeren Städten im Land. Ihre Botschaft: Wir akzeptieren dieses Ergebnis nicht, weil die Wahl selbst illegitim war. Die meisten Medien ignorierten die Proteste oder nannten die Demonstranten Vandalen, Hooligans, Drogenabhängige oder besoffene Jugendliche. Es ist, als erlebe man die Studentenproteste des kalten Winters 1996/1997 wieder. Auch damals trieb die Enttäuschung über eine manipulierte Wahl Zehntausende Bürger und Studierende auf die Straße.

Der Hauptunterschied ist, dass die Welt damals mit Erstaunen und Achtung auf diese jungen Menschen blickte. 2017 lässt man sie allein. Ihren Autokraten preisen westliche Politiker für Demokratie, Fortschritt und die Demokratie, die er dem Balkan bringe. Was hat sich verändert und wo hatte Aleksandar Vučić Erfolg, wo sein ehemaliger Chef Slobodan Milošević scheiterte?

Belgrade is (part of) the world – student protesters in Belgrade, November 1996.

Wer ist Serbiens mächtigster Mann?

Dunkle Vergangenheit. Aleksandar Vučić wurde 1970 in Belgrad geboren, studierte Jus und war kurz Journalist. Seine politische Karriere begann in den 90-ern. Er wurde zur rechten Hand Vojislav Šešeljs, dem Anführer der Serbischen Radikalen Partei. Vučić trat offen für den Krieg ein. Einmal sagte er: „Für jeden getöteten serbischen Soldaten töten wir 100 Muslime.“ Er wurde Informationsminister und unter seiner Leitung ließ das Ministerium die paar unabhängigen Medien verfolgen und schließen, die die Politik des serbischen Präsidenten Slobodan Milošević kritisierten.

Aleksandar Vučić and Vojislav Šešelj, early 1990s

Tranformation. Nach der Demokratischen Revolution im Oktober 2000 ging die Serbische Radikale Partei in Opposition und Vučić mit ihr. Tomislav Nikolić übernahm die Partei, als Vojislav Šešelj sich dem Internationalen Tribunal für Kriegsverbrechen in Jugoslawien in Den Haage stellte, das ihm wegen ethnischer Säuberungen in Kroatien und Bosnien den Proess machte. Vučić wurde sein Stellvertreter. Die Partei zerbrach unter Nikolić und Vučić erfand sich neu und gründete 2008 die Fortschrittspartei, die auf einmal demokratische und liberale Werte vertrat und für die EU-Mitgliedschaft eintrat.

Die Fehler der anderen und die Loyalität alter Freunde. Die Fortschrittspartei verdankte ihre Popularität den Fehlern der Demokratischen Partei unter Boris Tadić, die damals die Regierung stellte. Es kam zu Skandalen bei Privatisierungen, Korruption und Nepotismus und der rechte Flügel der Partei arrangierte sich mit der Sozialistischen Partei, die von Slobodan Milošević gegründet worden war. Das vertrieb die Wähler. Boris Tadić sah sich wachsendem Druck von der EU in der Kosovo-Frage ausgesetzt, und dem Druck der Wähler, beim Kosovo nicht nachzugeben. Vučić nutzte das, ließ aber Nikolić den Vortritt.

Boris Tadić (Source: Getty images)

Die Parlamentswahlen 2012 brachten den Machtwechsel. Die Fortschittspartei wurde stärkste Kraft, und nach einem Intermezzo als Koalitionspartner der Demokratischen Partei von Tadić wechselte die Sozialistische Partei die Seiten, nachdem Tomislav Nikolić die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte und unterstützte die Fortschrittspartei.

Der Kreis schließt sich

nach ihrer Machtübernahme machte die Fortschrittspartei weiter, wo die Demokraten aufgehört hatten. Sie ist überall. Im Parlament, in der Regierung, Regierungsbehörden, öffentlichen Einrichtungen, Universitäten, medizinischen Einrichungen, im aufgeblähten Öffentlichen Sektor, der seit Jahrzehnten unter der Last der Parteigünstlinge stöhnt. Für gewöhnliche Serben gleicht es einem Glücksspiel, ob sie dank ihrer Ausbildung und harter Arbeit einen Arbeitsplatz zu bekommen. Es kommt vor, aber nicht oft. Was einem einen Arbeitsplatz einbringt, ist Mitgliedschaft in der jeweils regierenden Partei, samt Beförderungen und einem halbwegs anständigen Gehalt. Je länger das Spiel dauert, desto niedriger die Tätigkeiten, für die man ein Parteibuch braucht. Angeblich ist man mittlerweile beim schlecht bezahlten Portier angekommen.

Dass viele junge gut ausgebildete Serben auswandern, sollte wenig überraschen. In kaum einem Land ist der Brain Drain so groß wie in Serbien. Sie gehen vor allem nach Deutschland, wo Ärzte und Krankenpfleger gebraucht werden. Die fehlen in Serbien, wo sie mit einem mageren Gehalt von 300 bis 600 Euro auskommen müssten. Auf Beschwerden hin riet Finanzminister Dušan Vujević: „Wenn ihr mit diesem Land nicht zufrieden seid, sucht euch ein anderes.“

Nur, die, die zu alt oder zu schlecht ausgebildet sind, bleiben – und die, die bleiben wollen. Sie müssen selbst zurechtkommen oder nach den Regeln spielen, um nicht das zu verlieren, was sie haben. Das wird zunehmend schwieriger.

Workers in shoe factory “Geox” welcoming Vučić. The factory is subsidized by the government. (Source: TANJUG/Oksana Toskić)

Ein zentrales Wahlversprechen seit 17 Jahren sind „ausländische Investitionen“, was in weiterer Folge Arbeitsplätze bedeutet. In ihrer Suche nach Investoren hat Regierung auf Regierung, diese eingeschlossen, schlechte Verträge ausverhandelt, die die serbischen Steuerzahler Unsummen an Förderungen für Unternehmen in Privateigentum kosten – und die aus Investorensicht billigen Beschäftigten dieser Unternehmer und Fabriken ihre Rechte als Arbeitnehmer. In der südkoreanischen Fabrik Yura in Leskovac arbeiteten die Beschäftigten zwölf Stunden am Tag mit Windeln statt Toilettenpausen, wurden laut Medienberichten geschlagen und sexuell belästigt. Das Arbeitsinspektorat stellte nach einem öffentlichen Aufschrei nur „geringfügige Verstöße“ fest. Kurz vor der Präsidentschaftswahl brachte sich ein Arbeiter der Goša-Fabrik in Smederevska Palanka am Arbeitsplatz um. In seinem Abschiedsbrief nannte er als Gründe Depressionen und bittere Armut. Die Geschäftsführung schuldet den Arbeitern zwischen je 15 und 20 Monatslöhnen. Sozialabgaben wurden seit drei Jahren nicht bezahlt. Die Fabrik gehörte der slowakischen Firma ŽOS Trnava. Als der Skandal aufflog, wechselten die Eigentümer binnen weniger Tage. Heute gehört sie laut Firmenbuch einer Holding auf Zypern. Sanktionen gegen Firmenleitung oder Eigentümer gab es nie.

Skandale

Hochwasser. Beim schweren Hochwasser 2014 am Balkan überschwemmte der Fluss Kolubara die Kleinstadt Obrenovac nahe Belgrad. 37 Menschen starben. Obwohl vier Tage vor der Flut Roter Alarm gegeben worden war, war die Stadt nicht evakuiert worden. Auch sonst wurden keine Schutzmaßnahmen getroffen. Die einzige Untersuchung, die es bislang gab, war die des Zentrums für investigativen Journalismus in Serbien. Offizielle Untersuchungen gab es nicht. Der Bürgermeister von Obrenovac ist noch immer im Amt. Er ist Mitglied der Fortschrittspartei. Der scheidende Präsident Tomislav Nikolić kam zum Schluss, Serbien sei von einer “unberechenbaren Wasserschlange” angegriffen worden.

Floods in Obrenovac, 2014. (Source: N1)

Der Hubschrauber. Am 14. März 2015 stürzte ein Helikopter mit sieben Menschen an Bord wegen dichten Nebels am Flughafen Nikola Tesla in Belgrad ab. Einer der Passagiere war ein Neugeborenes, das dringende ärztliche Hilfe benötigte. Zu der Tragödie kam es, nachdem einige Medien die Meldung veröffentlicht hatten, dass Verteidigungsminister Bratislav Gašić und einige andere Regierungsvertreter die Crew, bestehend aus Militärangehörigen und medizinischem Personal, bei der Landung begrüßt hatten – bevor es überhaupt passierte. Die Meldungen verschwanden schnell. Die Öffentlichkeit fragte sich, ob diese sieben Menschen wegen eines PR-Manövers gestorben waren. Militärexperten, Medien und die Öffentlichkeit sehen zahlreiche Fragen zu dem Unfall unbeantwortet. Unter anderem, warum der Hubschrauber angewiesen wurde, in schlechtem Wetter zu fliegen und am zivilen Flughafen Nikola Tesla in Belgrad landen musste. Verteidigungsminister Bratislav Gašić hat keine dieser Fragen je beantwortet. Er blieb im Amt, bis er für einen weiteren Skandal sorgte. Vor dutzenden Journalistinnen und Journalisten und laufenden Kameras meinte er, er möge Journalistinnen, die gerne in die Knie gehen. Er meinte eine Journalistin, die vor ihm kniete, um ihr Mikrophon in Stellung zu bringen.

Crashed helicopter at the airport Nikola Tesla in Belgrade (Source: Telegraf.rs)

Das Phantom von Savamala. 2016 urteilte der serbische Ombudsmann (und diesjährige Präsidentschaftskandidat) Saša Janković in einem Bericht, dass die Belgrader Polizei absichtlich nicht zu Hilfe gekommen sei, als sie Notrufe von Menschen erhielt, die „um die 30 maskierte Männer mit Baseballschlägern und Baggern“ gesehen hatten, „die Gebäude am Ufer der Sava im Viertel Savamala in der Nacht von 24. auf den 25. April abrissen und Bewohner des Viertels verprügelten.“ Das Viertel soll Teil der Belgrade Waterfront werden, einem Stadtentwicklungsprojekt mit neuer Oper, einem Einkaufszentrum, Luxushotels und Wohnungen. Die Vertragsgrundlage des Projekts wird vor der Öffentlichkeit geheimgehalten. Dass Maskierte in einer Stadt Gebäude abreißen, Bewohner bedrohen und verletzen können, riecht nach einem „failed state“. Zumal weder Polizei noch Justiz etwas unternahmen. Saša Janković, als Ombudsmann bekannter Kritiker von Regierung und Behörden, wurde nach Bekanntgabe seines Berichts Ziel einer Rufmordkampagne der regierungsnahen Boulevardzeitung „Informer“ und einem Online-Shitstorm durch offenkundige Parteigänger der Fortschrittspartei. Das sollte anderen Kritikern signalisieren, dass sie lieber zweimal nachdenken sollten, bevor sie öffentlich Kritik äußerten. Wer es dennoch macht, sieht sich wie das Wochenmagazin NIN Schnellgerichtsverfahren ausgesetzt, die hohe Strafen zur Folge haben – in einem Land, wo normale Gerichtsprozesse oft Jahrzehnte dauern.

Als die Fortschrittspartei bei den Parlamentswahlen im Jahr 2016 auch die Mehrheit im Regionalparlament der Vojvodina errang, wurde die Geschäftsführung des öffentlich-rechtlichen Senders der Vojvodina, RTV, innerhalb weniger Tage ausgetauscht. Redakteure und Journalisten erhielten neue Aufgabenbereiche, auch Nachrichtensprecher, die mit einer kritischen Haltung gegenüber der Fortschrittspartei aufgefallen waren.

In dieser Atmopshäre fanden die Präsidentschaftswahlen statt.

Savamala after demolitions (Source: Krik.rs/B. Jovanović)

Die Wahl

Vučić kam auf 54,9 Prozent der Stimmen und erzielte im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit. Zweiter wurde Ombudsmann Saša Janković mit 16,2, Luka Maksimović kam auf 9.4.

Wie war das möglich und warum überrascht das niemanden? Die Fortschrittspartei nimmt Wahlen sehr ernst. Und in dieser Wahl hatten die Gegenkandidaten schweren Gegenwind. Mit wenigen Ausnahmen mit geringer Reichweite stehen die serbischen Medien der Regierung nahe. Dass Wahlkampf gegen alle Prinzipien der Fairness, des Rechts und der Demokratie verstieß, war nicht gerade eine Neuigkeit. Laut einer Studie der NGO Transparency Serbia bekam Vučić drei Viertel der Fernsehberichterstattung, der sein Amt als Premierminister in die Wagschale warf. In den Tageszeitungen wurde er 98-mal positiv dargestellt, Luka Maksimović 27-mal, Vuk Jeremić zehnmal. Niemand sah sich so viel negativer Berichterstattung ausgesetzt wie Saša Janković. Er kam 40 negative Erwähnungen.

Dazu kommt, dass in Serbien der Regierungschef oder Präsident traditionell eine hohe Popularität genießt. Ob es Josip Broz Tito war, Slobodan Milošević, Zoran Đinđić oder Boris Tadić.

Und wo die Fortschrittspartei nicht die Herzen der Bürger zu gewinnen vermag, wenn diese etwa nicht zufrieden sind mit ihren Lebensstandard oder einer Minderheit angehören, schafft man es mit Druck. Wenn Menschen ihren Arbeitsplatz der Parteizugehörigkeit verdanken, erwartet man von ihnen Loyalität. Dem Bericht von Transparency International zufolge wurden sie zu Telefonwahlkampf eingeteilt, zum Straßenwahlkampf oder sie sollten Listen mit „sicheren Wählern“ erstellen und daneben gegen aussichtsreiche Gegenkandidaten auftreten – in Interviews und in Onlineforen.

Das gesamte öffentliche System ist der Partikratie unterworfen, ein anhaltendes Erbe der Kommunistischen Partei des ehemaligen Jugoslawiens. Jeder, der beteiligt ist, hat ein Interesse, es aufrechtzuerhalten. Das ist der Grund, warum diese Form der Korruption bis heute so tief in der serbischen Gesellschaft verankert ist. Einige Leute innerhalb des Systems wollen ihre Macht und ihre Privilegien erhalten – und heute, 2017, wo das Budget bereits knapp geworden ist, streiten sich die meisten Menschen um die Brosamen, die ihnen das System übrig lässt, verkaufen ihre Stimme für die Garantie, dass sie ihren Arbeitsplatz nicht verlieren – ein Arbeitsplatz für 200 Euro Gehalt im Monat, der wahrscheinlich die ganze Familie erhält.

Saša Janković (Source: Fonet)

Was macht Vučićs Erfolg aus?

Aleksandar Vučić ist kein guter Regierungschef. Aber er weiß, wie man Macht erringt und behält. Er befindet sich im ständigen Wahlkampf.

Such dir deine Kämpfe aus. Er hat viele Strategien seiner Vorgänger und Gurus aus den 90-ern übernommen – und hat aus ihren Fehlern gelernt und sich geschworen, diese nie zu wiederholen. Aleksandar Vučić weiß, wie man die EU und Russland gegeneinander ausspielt und beide zufriedenstellt. Er weiß, was getan werden muss und wie er sich herausredet. Mit zirkulärem Whataboutism, Appellen an die Gefühle seiner Wähler und ad-hominem-Angriffe auf seine Gegner. Für Serben sehen Donald Trumps herablassender Stil und seine Angriffe auf Medien aus wie ein Rezept von Aleksandar Vučić. Und wiel wir gerade bei Medien sind: Vučić weigerte sich, im Fernsehen mit seinen Mitbewerben zu diskutieren. Und er weiß, mit seinen ernstzunehmenden Gegnern umzugehen: Online-User oder Parteivertreter attackieren sie und er schreitet ein, um die Angriffe auf seine Gegner zu verurteilen. So wird der Zweck erfüllt und seine Hände bleiben sauber.

Kenne deine Freunde

Vučić weiß, dass seine Gunst in Brüssel von der Kosovo-Frage abhängt. Mit dem Brüsseler Abkommen stimmte er einigen Kompromissen zu. Der Mangel an Transparenz im Prozess lässt aber einigen Spielraum für Spekulationen und verschiedene Versionen dessen, was vereinbart wurde. Dass der Kosovo sein eigenes Parlament hat, seine eigene Regierung, Rechtssprechung, eigene Gesetze, Polizei, sogar eine eigene internationale Telefonvorwahl, das alles hat mit ihm nichts zu tun. Er hat keine Wahl als mit dem Kosovo zu kooperieren. Nicht einmal Nationalisten können es ihm vorwerfen, dass er am Verhandlungstisch sitzt. Was man ihm vorwerfen kann, ist die Heuchelei und sind die Brandreden, die ihn an der Macht halten und die Serben im Kosovo alleine lassen.

Aleksandar Vučić and Tomislav Nikolić (Source: Srđan Ilić/PIXSELL)

Die militärische und strategische Zusammenarbeit mit Russland mag den Menschen in Serbien nichts bringen – etwa die angeblich gratis Kampfflugzeuge, für die man am Ende doch zahlen muss. Aber es stellt Vladimir Putin zufrieden. Nach einem ähnlichen Muster wurde noch unter Präsident Boris Tadić der staatliche Ölkonzern „Oil Industry of Serbia“ für einen Spottpreis an die russische Gazprom verkauft.

Nicht stillstehen. Vučić vergleicht sich gern mit dem ermordeten serbischen Premierminister Zoran Đinđić. Regierungsnahe Boulevardblätter streuten sogar Gerüchte, dass Vučić Ziel von Attentatsversuchen sein könnte. Đinđić wurde für seinen Kampf gegen das organisierte Verbrechen getötet. Seine Nachfolger, Vučić eingeschlossen, ließen das bleiben und ließen nicht einmal den politischen Hintergrund des Attentats aufklären. Bis heute bleibt diese Frage ungeklärt.

Kann das ewig gutgehen?

Zeiten ändern sich. Nach dem gewaltsamen Ende Jugoslawiens in den 1990ern versuchten die EU und Russland, Einfluss auf die Region zu gewinnen. Heute sind Kroatien und Slowenien EU-Mitglieder, Serbien, Bosnien und Mazedonien Beitrittskandidaten. Die Situation am Balkan ist relativ stabil und Flüchtlingskrise und die Konflikte im Nahen Osten binden die Aufmerksamkeit der EU. In den 90-ern unter dem Milošević-Regime erhielten oppositionelle Parteien und NGOs noch großzügige finanzielle und politische Unterstützung. Heute besteht kein Interesse mehr daran, solche Gruppen zu fördern.

Der Drahtseilakt. Glaubt man den Gerüchten, wird die EU so bald keine neuen Mitglieder aufnehmen. Es gibt keinen Grund, Druck auf Serbien auszuüben, EU-Standards allzu schnell zu erfüllen. Die EU schaut weg bei den Mängeln und Fehlern der serbischen Regierung, so lange es keine allzu großen Probleme gibt. Der Skandal um den illegalen Abriss in Savamala und die darauf folgenden Proteste wurden im jährlichen EU-Fortschrittsbericht nicht einmal erwähnt – obwohl das Augenmerk des Berichts auf dem Rechtsstaat liegt. Stattdessen wurde der serbische Rechtsstaat gelobt. Savamala kam nur in einer der 325 Anmerkungen zum Bericht vor, die EU-Parlamentarier hineinreklamierten. (Dass in einem jährlichen Bericht mehr als 300 Anmerkungen gemacht werden, zeigt, wie gering das Interesse der EU-Kommission an Fortschritt in Serbien ist.)

Vučić and Putin (Source: Tanjug/AP)

Das hat nicht nur damit zu tun, dass die EU nicht wirklich an neuen Mitgliedern interessiert ist. In Bulgarien, Rumänien und Kroatien gibt es sehr ähnliche Probleme und sie sind bereits EU-Mitglieder.

Hinter verschlossenen Türen zeigt sich die EU-Kommission der serbischen Regierung gegenüber etwas kritischer. Aber die Hauptsorge bleibt das negative Bild der EU-Integration, das in Serbien vorherrscht. Das liegt auch daran, dass die serbische Regierung wenig Transparenz zulässt, wenn es um die negativen Seiten der Integration geht. Und EU-Skepsis gehört zum Repertoir der rechtspopulistische Opposition und der pro-russischen Lobby im Land. Bei ihrer Unterstützung für Vučić sollte die EU-Kommission allerdings auch an die Menschen im linken Teil des politischen Spektrums denken, die einen EU-Beitritt eher positiv sehen. Man weiß in Brüssel zwar, dass Vučić den Drahtseilakt nicht ewig aufrecht erhalten kann, aber mit dem Status quo kann man eine Zeit lang durchaus leben. Die Menschen in Serbien hingegen erleben, wie eine ganze junge Generation langsam verschwindet.

Vučić with High Representative of EU for Foreign Affairs and Security Policy, Federica Mogherini (Source: N1)

Die EU hat das EU-Projekt für wichtiger erklärt als die Menschen in Serbien. Das mag eine gute Kurzzeit-Strategie sein, um den Balkan stabil zu halten, während der Rest der Welt verrückt zu spielen scheint. Langfristig verliert Brüssel das Vertrauen und die Unterstützung der Menschen und schafft damit die Grundlage dafür, die eigene Krise zu verlängern, sollte Serbien EU-Mitglied werden.

Die Proteste in Belgrad gingen auch an diesem Wochenende weiter, mit der Unterstützung von Demonstranten aus ganz Serbien, die von Polizei- und Militärgewerkschaftern unterstützt wurden. Tag für Tag standen zehntausende Menschen auf der Straße – und die regierungsnahen großen Fernsehsender und Zeitungen berichteten kaum. Prime Minister/Präsident Vučić bekam all ihre Aufmerksamkeit, als er die vorher erwähnte Fabrik „Goša“ besuchte, wo sich ein Arbeiter das Leben aus Verzweiflung und Armut genommen hatte. Vor dutzenden Kameras versprach Vučić, die Geschäftsführung zu bestrafen, den Arbeitern sofort 500 Euro auszubezahlen und die Beiträge zu ihrer Krankenversicherung zu leisten. Die Kollegen des toten Arbeiters applaudierten. In seiner Rede griff er die seinerzeitige Regierung der Demokratischen Partei an, die schon lange aus dem Amt war, als die Krise in der Fabrik ausbrach. Und er machte seine obligatorischen Bemerkungen über die nie näher bezeichneten „die“, die ihn angriffen und tat sich selbst leid als der, der die Probleme lösen müsse. Dass die Regierung effektiv einem Privatunternehmen, das massiv gegen Gesetze verstoßen hatte, mit Steuergeld zuhilfe kam, verschwieg er. Wieder bestätigte er, dass sich die Menschen in Serbien, die ein besseres Leben wollen oder auch nur Gerechtigkeit suchen, nicht auf den Rechtsstaat verlassen sollten, auf Behörden oder gar auf Brüssel – sondern dass ihr gesamtes Leben von einem einzelnen Menschen abhängt.

Jetzt, wo all das bekannt ist, stellt sich die Frage: Werden die Serben einmal mehr mitspielen oder werden sie es sein, die dem Spiel ein Ende bereiten?

Zuerst auf Englisch erschienen auf www.intelligencerpost.com

Übersetzung: Christoph Baumgarten


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