Rede der serbischen Studentin auf der Kundgebung: "Solidarität für die Proteste #1od5miliona (#
Die meisten Leute, die Serbien verlassen, sind junge Leute, genau wie ich. Heute gebe ich mir
das Recht, auch in ihrem Namen zu sprechen.
"Lauf weg!" Mit diesen Worten haben unsere Eltern uns - mich, meine Schwester und
tausende andere StudentInnen - weggeschickt.
Wir beschweren uns nicht über unser Leben und unser Studium im Ausland. Man soll auf
jeden Fall reisen, sich verbessern und neue Erfahrungen sammeln.
Das Problem ist, dass wir fast gezwungen sind weg zu gehen und das Problem ist, dass wir
das Gefühl haben, dass wir nichts zurückgeben können. Natürlich haben wir immer die Wahl,
aber die Rückkehr nach Serbien würde Unsicherheit bedeuten.
Warum in ein Land zurückkehren, wo ein mühsam erworbenes Diplom keinen Wert hat, wo
die Doktorate gekauft sind, und einen Job zu finden, hängt von der Parteimitgliedschaft ab.
In ein Land, in dem grundlegende Menschenrechte verletzt wurden. Warum in ein Land
zurückkehren, wo Gewalt toleriert wird, wo Korruption mehr als vorhanden ist und
Institutionen ihre Arbeit nicht richtig machen. Ein Land, wo das Leben auf bloßes Überleben
reduziert ist und das Wort "Würde" aus dem Vokabular gestrichen ist.
Deshalb entscheiden wir uns dafür, Ausländer zu sein. Wir sind Ausländer in einem fremden
Land und mit der Zeit werden wir Ausländer in unserem eigenen Land.
Weder jemand bittet uns zu bleiben, noch ruft uns jemand zurück. Unser Staat scheint nicht
einmal daran interessiert zu sein, dass jährlich rund 50.000 Menschen den Staat verlassen.
Die Geburtenrate sinkt nicht, weil keine Kinder geboren werden, sondern weil die Kinder das
Land verlassen und es keinen anderen gibt, der Kinder gebären kann.
"Lass die Worte los, lass es (das Kind) weinen" und andere Slogans der Kampagne zur
Erhöhung der Geburtenrate in Serbien sind nicht nur anstößig und rücksichtslos, sie sind
auch in ihrem Grund sinnlos. Warum Kinder gebären? Damit auch diese Kinder das Land
verlassen? Wie Kinder zu gebären, wenn wir sehen, wie der Staat die Bürger behandelt?
Die Menschen, die in Serbien geblieben sind, sagen uns: Euch geht es gut. Das Leben im
Ausland ist großartig.
Nun, uns geht es nicht immer gut. Wir fühlen uns schlecht, wenn wir sehen, wie die
serbischen Behörden mit uns und unseren Landsleuten umgeht. Die Art und Weise, wie
Menschen im Allgemeinen behandelt werden. Uns geht es nicht gut, wenn wir unsere
Freunde, Familie, unsere Sprache und unsere Bäckerei an der Ecke vermissen. Uns geht es
schlecht, weil wir wissen, dass wir nicht zurückgehen können, auch wenn wir es wollen
würden. Uns geht es schlecht, weil wir wissen, dass wir am Ende kein Recht haben zu
wählen, ob wir bleiben oder gehen wollen.
Vielleicht würden wir am liebsten, in unserem eigenen Land studieren, in unserer eigenen
Sprache sprechen und in diesem Bäckerei an der Ecke essen.
Wir lieben unser Land und wollen uns darin gut fühlen.
Wir möchten ein Land haben, in das wir zurückkommen können.
Marina U.
1od5miliona BEČ / Protiv Diktature Beč / 23.02.2019